Corona-Gespräche | 05
Heute zu Gast: Ulrich Schneider, Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes
„Die Schere zwischen arm und reich hat sich bereits vergrößert“
Ulrich Schneider, Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes, Mahner in Sachen sozialer Ungleichheit und gebürtiger Oberhausener, sieht die Gesellschaft in den kommenden Jahren vor einer Zerreißprobe, wenn es nicht gelingt, die Themen Alterssicherung und Abschaffung von Hartz-IV anzugehen.
Sonja Bongers: Herr Schneider, ein Jahr bestimmt nun Corona unseren Alltag. Inwieweit wird die Pandemie die Schere zwischen Arm und Reich in Deutschland noch weiter ausdehnen?
Ulrich Schneider: Die Pandemie hat die Schere bereits vergrößert. Das wird sich in den Zahlen und Statistiken erst im nächsten Jahr niederschlagen. Dann werden wir sehen, dass die Armutsquote in Deutschland und insbesondere im Ruhrgebiet leider nochmals kräftig angestiegen sein wird. Wenn man sich anschaut, was jetzt schon am Arbeitsmarkt passiert, dann ist unweigerlich zu sehen, dass die Kluft zwischen arm und reich nochmal zugenommen hat. Die ersten, die ihre Jobs im ersten Lockdown verloren haben, das waren ohnehin die, die in Leiharbeiterjobs tätig waren, Leute aus der Gastronomie, Kleinselbstständige und auch viele Studierende, die ihre 450 Euro-Jobs verloren haben. Wir haben jetzt derzeit rund 700.000 Erwerbstätige weniger als vor der Pandemie. Das hat vor allem die getroffen, die dann mit geringen Löhnen in Kurzarbeit oder in den Bezug von Arbeitslosengeld gegangen sind. Betroffen waren nicht die Gutverdiener, sondern vor allem Menschen mit gering entlohnten Jobs, die jetzt knapp über Hartz-IV-Niveau leben müssen.
Sonja Bongers: Was ist beim Kurzarbeitergeld denn schief gelaufen?
Ulrich Schneider: Da haben wir die Situation, dass Konzerne wie Daimler oder BMW Kurzarbeitergeld erhalten aber gleichzeitig Dividenden an die Aktionäre ausschütten. Das geht so nicht.
Sonja Bongers: Was können Kommunen wie Oberhausen, die immer mit finanziellen Schwierigkeiten zu kämpfen haben, denen aber die Probleme durchaus bewusst sind, dagegen tun?
Ulrich Schneider: Man muss genau hinschauen. In der Pandemie jetzt haben die Kommunen eh kaum große Chancen, die Probleme zu lösen. Zum Beispiel wie viel Kurzarbeitergeld bezahlt wird, ob 60 oder 80 Prozent, das bestimmt der Bund, die Frage wie wird der Rettungsschirm ausgestattet, das sind alles Sachen des Bundes und der Länder. Die haben es in der Hand.
Sonja Bongers: Was muss der Bund denn konkret tun?
Ulrich Schneider: Wenn wir von einer steigenden Armut in Corona-Zeiten sprechen, dann brauchen wir vor allem eins: Geld. Die Menschen müssen über die Krise gebracht werden. Der Bund muss sinnvoll agieren. Betrachten wir einmal die Herabsetzung der Mehrwertsteuer. Da habe ich schon immer meine Bedenken gehabt. Das kostete 20 Milliarden Euro. Wer hat davon profitiert? Die Besserverdienenden. Zahlen belegen, dass diese Gruppe ihre Anschaffungen vorgezogen hat. Die Leute in Kurzarbeit oder ohne Job hatten davon kaum etwas. Auch der Kinderbonus, hat bei Leuten mit Geld vor allem die Sparquote nach oben getrieben. Man hätte sich beim Konjunkturprogramm auf diejenigen konzentrieren sollen, die wirklich Geld brauchen, Wohngeldbezieher, Hartz IV-Bezieher oder andere, die knapp über Hartz-IV leben. Diese Gruppe hätte das Geld komplett ausgegeben. Das hätte auch dem Einzelhandel unheimlich geholfen. Was Kommunen tun können, ist die Infrastruktur zu verbessern. Wir wissen alle inzwischen, dass Homeschooling für die Eltern zum Teil die Hölle ist. Kleine Wohnung, zwei oder drei Kinder zu Hause und nur ein Computer: dann sind Kinder und Eltern am Limit. Da hat natürlich die Kommune die Möglichkeit, zum Beispiel unter strengen Hygieneauflagen Räumlichkeiten offen zu halten, wo Kinder dann ihr ruhiges Plätzchen finden, um ihre Hausaufgaben machen zu können. Das sind Dinge, da sind Kommunen ganz nah dran am Menschen.
Sonja Bongers: Kürzlich brachten Sie den Vorschlag in die Diskussion ein, dass mit dem Aufwand von rund 24 Milliarden Euro, die Armut in Deutschland deutlich reduziert oder gar abgeschafft werden könnte. Ich finde das sehr gut, doch wie soll das gegenfinanziert werden und welche Maßnahmen sind Ihrer Ansicht nach von Nöten?
Ulrich Schneider: Vor der Pandemie habe ich gedacht, dass 24 Milliarden Euro eine Menge Geld wären. Dann bin ich eines Besseren belehrt worden. Deutschland ist das viertreichste Land der Welt. Man muss jetzt nur sehen, woher nehme ich das Geld. Der neueste Armutsbericht aus dem Arbeitsministerium von Hubertus Heil hat ja gezeigt, dass bei den untersten 50 Prozent kaum etwas zu holen ist, während bei den zehn Prozent Reichen, 70 Prozent des gesamten Vermögens angesammelt sind. Das heißt, wir könnten durch eine Vermögenssteuer dieses Geld relativ leicht beschaffen. Wenn wir die Vermögensteuer wie sie damals unter Helmut Kohl bei einem Prozent lag, wieder einführen würden, hätten wir etwa 20 Milliarden pro Jahr zusammen. Anderes Beispiel: Jährlich werden zwischen 400 und 600 Milliarden Euro vererbt. Was wir da an Steuern herausholen, ist eine Quote von maximal drei Prozent, also rund zwölf bis 18 Milliarden Euro. Einfache Rechnung: bei 400 Milliarden vererbtem Vermögen, angesetzten zehn Prozent Steuern ergäbe das jährlich jedoch 40 Milliarden Euro. Also, wir haben die Möglichkeit, tun aber nichts. Die Reichen würden das ja auch gar nicht merken. Wie sagte Arnold Schwarzenegger einmal so ironisch: ‚Geld allein macht mich nicht glücklich. Es ist mit 700 Millionen Dollar genauso schön zu leben, wie mit 800 Millionen Dollar.‘ Wir haben eine extreme Schieflage, was Einkommen und Vermögen betrifft, und wären leicht in der Lage Einkommensarmut abzuschaffen.
Sonja Bongers: Haben Sie denn nicht die Befürchtung, dass die abgehängten Bevölkerungsgruppen sich ihren Teil einfach irgendwann mal holen werden?
Ulrich Schneider: Das glaube ich gar nicht. Die die arm sind, geben sich ja oft selbst die neoliberalen Schuldzuweisungen. Ich habe versagt, ich bin eine Niete, es liegt an mir. Die Wenigsten sagen, ich kann ja gar nichts dafür. Wir haben derzeit 1,2 Millionen so genannte Aufstocker in Hartz IV. Das sind Leute, die gehen arbeiten, müssen aber aufstocken. Die Hälfte davon arbeitet sogar sozialversicherungspflichtig. Oftmals sind es Alleinerziehende. Und diese Leute neigen häufig dazu zu sagen, es liegt an mir, ich schaffe das nicht, obwohl es doch objektiv gar nicht stimmt.
Sonja Bongers: Wird das nicht auch künftige Rentner treffen, die jetzt zwar zum Mittelstand zählen aber aufgrund von Brüchen in der Erwerbsbiographie nicht genug eingezahlt haben?
Ulrich Schneider: Bei diesen Menschen wird das nochmal eine Nummer härter. Wer im Alter feststellt, er hat nicht genug im Portmonee, für den gilt das dann den Rest des Lebens. Ein relativ junger Hartz IV–Bezieher kann hoffen, dass es mal besser wird. Das gilt nicht für die Alten. Die Armutsquote unter Rentnern ist jetzt schon bei 20 Prozent. Das ist weit mehr als im Bundesdurchschnitt. In dieser Gruppe der Rentnerinnen und Rentner hat die Armutsquote in den letzten 15 Jahren um 50 Prozent zugenommen. Es gibt keine Gruppe, in der die Armut rasanter anwächst.
Sonja Bongers: Ich dachte, gerade den Älteren ginge es besser als dem Durchschnitt?
Ulrich Schneider: Das war vielleicht früher einmal. Die Zeiten, in denen jemand 40 Jahre als Facharbeiter gut verdient hat, sind vorbei. Jetzt kommt mit den Babyboomer-Jahrgängen die Gruppe derer in die Rente, die Arbeitslosigkeit oder Langzeitarbeitslosigkeit kennengelernt hat. Daher hat die SPD auch die Grundrente eingeführt. Auch viele Akademiker fallen aufgrund ihrer Brüche in der Biographie darunter. Das wird auch das Thema der nächsten Legislaturperiode: Alterssicherung.
Sonja Bongers: Was hat denn diesen Zustand letztendlich ausgelöst?
Ulrich Schneider: Die Agendapolitik der Rot-Grünen-Bundesregierung hat nach 2005 viel ausgelöst: 450-Euro Jobs, Ausbau der Leiharbeit, sachgrundlose Befristungen in Arbeitsverträgen wurden eingeführt bzw. ausgebaut. Alles das und Hartz-IV. Man hat bewusst in Kauf genommen, dass die Menschen in Armut kommen. Die Politik hat sich dabei selbst belogen. So dachten viele Politiker, dass die Leute aus dem 450-Euro-Job, aus Leiharbeit oder aus dem Niedriglohnsektor auf Dauer schon in normale Beschäftigungsverhältnisse wechseln würden. Das geschah aber nicht.
Sonja Bongers: Warum tut sich denn Deutschland so schwer, was die Alterssicherungssysteme anbetrifft?
Ulrich Schneider: Es gab bis zur Jahrtausendwende das Lebensstandardsicherungsprinzip, das der Rentenpolitik zugrunde lag. Es orientierte sich immer daran, dass der Mensch seinen Lebensstandard im Alter halbwegs halten kann. Ab dem Jahr 2000 galt das nicht mehr. Ab sofort war Beitragsstabilität die neue Richtschnur. Es ging um eine Absenkung der Lohnnebenkosten und die Drohung der Wirtschaft, im globalen Handel sonst nicht mehr konkurrenzfähig zu sein. Um die Beiträge stabil zu halten, wurde das Rentenniveau auf Talfahrt geschickt.
Sonja Bongers: Sie sind ja häufiger Gast in den Medien. Ist es nicht frustrierend nach all den Jahren zu sehen, wie wenig oftmals in der Sozialpolitik verändert wurde.
Ulrich Schneider: Wir wissen nicht, was nach Hartz-IV passiert wäre, wenn wir und andere Verbände nicht dagegen angegangen wären. Es gab im Bundestag ja keine linke Opposition gegen die Agendapolitik. Rot-Grün hat das durchgezogen und die Union und die FDP haben Anträge gestellt, die alles noch schlimmer gemacht hätten.
Sonja Bongers: Es wird immer viel über Klimapolitik gesprochen. Aber wie soll man Menschen, die in Armut leben, die Dringlichkeit dieser Aufgabe näher bringen?
Ulrich Schneider: Viele ärmere Menschen haben ja inzwischen mehr Angst vor der Klimapolitik als vor dem Klimawandel. Wenn die Klimapolitik hören, denken die sofort an höhere Mieten oder höhere Spritpreise. Man muss den Menschen soziale Sicherheit geben. Dann werden sie auch offen sein für eine gute Klimapolitik. Man muss die Leute mitnehmen, indem man soziale Ausgleiche schafft für klimapolitisch bedingt steigende Kosten.
Sonja Bongers: Herr Schneider, zum Abschluss, was machen Sie als erstes nach der Pandemie?
Ulrich Schneider: In einer schönen Kneipe ein schönes frisch gezapftes Glas Pils trinken gehen.
Die Gesprächsreihe wird fortgesetzt.